P. Purtschert u.a. (Hrsg.): Colonial Switzerland

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Titel
Colonial Switzerland. Rethinking Colonialism from the Margins


Herausgeber
Purtschert, Patricia; Harald, Fischer-Tiné
Reihe
Cambridge Imperial and Postcolonial Studies
Erschienen
Basingstoke 2015: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
323 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Brigitta Bernet, Insititut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Historischer Seminar Universität Zürich


In der Schweiz fanden postcolonial studies lange erstaunlich wenig Gehör. Auch unter HistorikerInnen hörte man sagen, die Rede von einer (post)kolonialen Schweiz mute widersinnig an, da das Land ja nie Kolonien besessen habe. Seit ein paar Jahren entwickelt sich jedoch ein Bewusstsein dafür, dass auch Länder ohne Kolonien Teil hatten an der kolonialen Tradition Europas und umgekehrt durch diese bis heute geprägt werden. Hier setzt der von Patricia Purtschert und Harald Fischer-Tiné herausgegebene Sammelband Colonial Switzerland. Rethinking Colonialism from the Margins an. Zwölf Beiträge nehmen die Schweiz darin als ein Land in den Blick, das zwar am Rande des kolonialen Projektes situiert war, die Standortvorteile innerhalb dieser Matrix jedoch profitabel zu nutzen wusste. Der Fokus liegt auf dem «kolonialen Imaginären» der Schweiz: einer vielschichtigen Kultur aus kolonial geprägten Normen, Einstellungen, Bildern und Praktiken. Anders als die offiziellen Kolonialmächte, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine Phase der Dekolonisierung durchliefen, sei diese auch in der Schweiz wirkmächtige Kultur hierzulande jedoch kaum kritisch hinterfragt und aufgearbeitet worden, so die Herausgeberin und der Herausgeber in der Einleitung. Das Unverständnis, das die Rede von einer kolonialen Schweiz bis heute auslöst, deuten sie als Symptom einer «kolonialen Amnesie», die zwischen «kolonialer Naivität» und «kolonialer Komplizenschaft» hin und her schwankt.

Im ersten Teil des Bandes, der sich den wechselseitigen Austauschbeziehungen zwischen Kolonialismus und Wissenschaft widmet, geht Bernhard Schär von der Gleichzeitigkeit aus, die zwischen der europäischen Expansion in die Tropen und den Anfängen der Schweizer Alpenforschung im frühen 18. Jahrhundert bestand. Der Beitrag legt dar, dass der imperiale Rahmen, in dem wissenschaftliche Akteure und Konzepte zwischen den Tropen und der Schweiz zirkulierten, eine notwendige Bedingung für die Entdeckung des «homo alpinus» wie auch der «Urschweiz » darstellte. Am Beispiel des global zirkulierenden Konzepts der «Rasse» zeigt Pascal Germann exemplarisch die Effekte auf, die der Erfahrungsraum des europäischen Imperialismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Entstehung der Eugenik in der Schweiz hatte. Deutlich wird hier insbesondere, wie sich die Machtasymmetrien des imperialen Kontextes in Messmethoden und Differenzkategorien einschrieben, die bald auch die Wahrnehmung und Bewertung von Differenzen innerhalb der Schweizer Bevölkerung anleiteten. Demgegenüber beleuchtet Lukas Meier den Alltag von Schweizer WissenschafterInnen, die im Schatten der französischen Kolonialmacht an der Elfenbeinküste forschten. Ausgehend vom dort 1951 gegründeten, an eine französische Initiative angegliederten Centre suisse de recherches scientifiques (CSRS), zeigt der Beitrag die unterschiedlichen Verständnisse von Kolonialismus auf, die hier neben und gegeneinander bestanden.

Im zweiten Teil zu (post)kolonialen Ökonomien illustriert der Beitrag von Andreas Zangger einleuchtend, inwiefern die Rede von einem «informellen» Schweizer Kolonialismus Sinn macht. Im Zentrum stehen die informellen Netzwerke von Schweizer Händlern, Wissenschaftern und Ingenieuren in Südostasien, die sich gleichsam im Fahrwasser der Kolonialmächte profitabel in deren Dispositive einzufügen wussten, andererseits aber stets auch darum bemüht waren, ihre Entschweizerung durch spezifische Normen und Rituale in Grenzen zu halten. Angela Sanders wiederum lenkt den Blick auf die wirtschaftlichen und entwicklungshelferischen Beziehungen der Schweiz zu Peru. Sanders zeigt, wie die viel zitierte Gleichsetzung von Anden und Alpen der Schweizer Seite als Argument diente, um in den 1960er Jahren ein spätkoloniales Hilfsprojekt im Bereich der Milchwirtschaft durchzuführen. Rohit Jain plädiert dafür, die postcolonial studies mit ihrem Fokus auf Kultur stärker zurückzubinden an die Analyse wirtschaftlicher Entwicklungen. Sein auf die Gegenwart fokussierter Beitrag geht von der gleichzeitigen Popularisierung und Exotisierung der indischen Kultur in der Schweiz aus. Wie Jain betont, ist dieser Prozess nur zu verstehen, wenn man sich die Liberalisierung der indischen Wirtschaft seit den 1990er Jahren vor Augen führt, mit der neue Personengruppen – wie Touristinnen und IT-Fachleute – hierzulande auftauchten. Nach Ansicht des Autors ist die Exotisierung als ein Versuch zu werten, die wachsende wirtschaftliche Macht Indiens – und die damit verknüpften Verunsicherungen in Hinblick auf den schweizerischen Überlegenheitsanspruch – symbolisch zu verarbeiten.

Nahtlos schliesst daran der dritte Teil zu (post)kolonialen Selbstbildern an. Gestützt auf das Tagebuch der Schweizer Ärztin Bertha Hardegger, die von 1937 bis 1970 in Lesotho als erste weisse Missionsärztin tätig war, fragt Ruramisai Charumbira, inwiefern der Wille zur Hilfe auch in diesem Fall dazu beitrug, das afrikanische Bewusstsein zu kolonisieren. In den Höhen des Himalaya setzt Patricia Purtscherts Beitrag an, der die Bedeutungsdimensionen der Mount-Everest- Expedition eines Schweizer Teams im Jahr 1952 freilegt. Wie die Autorin überzeugend darlegt, ging es bei diesem Vorhaben, das von den Schweizer Medien enthusiastisch mitverfolgt wurde, nicht zuletzt darum, die Position der Schweiz in der (post)kolonialen Weltordnung neu festzulegen. Im Unterschied zum 19. Jahrhundert, als Schweizer Bergführer sich als Handlanger britischer Bergsteiger verdient gemacht hatten, nahmen die «Swiss Sahibs» am nepalesischen Berg, der die Welt bedeutete, nunmehr eine führende Rolle ein. Daran anschliessend geben Patricia Hongler und Marina Lienhard erhellende Einblicke in die Erfahrungsgeschichte des (Post)Kolonialismus. Basierend auf Selbstzeugnissen junger SchweizerInnen, die zwischen den 1940er und 1970er Jahren für transnationale Firmen oder als EntwicklungshelferInnen in ehemaligen Kolonien tätig waren, zeichnen sie nach, wie diese ihre widersprüchliche Position im Zuge der Dekolonisierung wahrnahmen, zu legitimieren suchten und in den 1970er Jahren immer stärker problematisierten.

Im vierten Teil zum Themenfeld (post)kolonialer Politik und Gegenpolitik beleuchtet Harald Fischer-Tiné die Schweiz für einmal nicht als heimliche Komplizin oder Profiteurin des imperialen Projektes, sondern als Plattform von antikolonialem Widerstand. Mit seiner Mikrostudie zum indischen Aktivisten Shyamji Krishnavarma, der von 1914 bis 1930 im Schweizer Exil in Genf lebte und von dorther ein antiimperiales Netzwerk aufbaute, gelingt Fischer-Tiné ein ungewohntes Porträt der Schweiz von den Rändern her und zugleich der Nachweis, dass sich helvetische Institutionen und Werte (wie Neutralität und Humanität) für koloniale ebenso wie für antikoloniale Projekte nutzen liessen. Im darauf folgenden Beitrag geht Ariane Knüsel dem offiziellen China-Bild der Schweiz in den 1920er Jahren nach. Die Autorin sucht Zeitungsartikel, die der Schweizer Generalkonsul in Shanghai 1923 im Schweizerischen Handelsblatt veröffentlichte, nach (post)kolonialen Stereotypen ab. Der letzte Beitrag von Anne Lavanchy wiederum analysiert, wie eherechtliche Vorschriften auf dem Zivilstandsamt administrativ umgesetzt werden. Wie Lavanchy darlegt, kommen in der Schweiz seit 2008 fragwürdige Verfahren zur Entlarvung «falscher Ehen» zum Einsatz, in die eine rassistische Hermeneutik des Verdachts eingeschrieben ist.

Colonial Switzerland ist ein äusserst lesenswertes Buch. Es macht das Innovationspotential anschaulich, das Fragen und Perspektiven aus dem Bereich der postcolonial studies für ein komplexeres Verständnis der Geschichte der Schweiz haben können. Zwar fällt das Zusammenführen von theoretischen Ansätzen und Quellen nicht immer gleich überzeugend aus und wirkt an einigen Stellen etwas unverbunden. Insgesamt erschliesst der Band aber Neuland und stellt ein Feld bereit, das weiterer Aufarbeitung harrt. Wie Shalini Randeria in ihrem synthetisierenden Schlusswort betont, ist es hierzu unerlässlich, sich von gängigen Analysekategorien, Periodisierungen und Raumkonzepten zu lösen – und diese mitunter selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen. Dass die Geschichte der Schweiz von einer postkolonialen Perspektive profitieren kann, steht ausser Frage, und die Beiträge des Bandes machen anschaulich, wie sich dieser Ansatz operationalisieren lässt. Ob die Schweiz für die postcolonial studies interessant ist, wäre weiter zu diskutieren. Wie Randeria betont, verkörpert der schweizerische «Kolonialismus ohne Kolonien» in der Kolonialgeschichte zwar eine Ausnahme, in der Gegenwart ist er jedoch zur Norm geworden. So gesehen wäre es durchaus denkbar, dass die Schweizer Geschichte für einmal einen Beitrag zum Verständnis der europäischen Gegenwart leisten könnte.

Zitierweise:
Brigitta Bernet: Rezension zu: Patricia Purtschert, Harald Fischer-Tiné (Hg.), Colonial Switzerland. Rethinking Colonialism from the Margins, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 477-480.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 477-480.

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